Termin,  Vortrag

Einen Gang höher schalten – Workshops, Gängeviertel Hamburg

Unter dem Motto „Komm in die Gänge“ lockt seit einem Jahrzehnt das Hamburger Gängeviertel am Valentinskamp in einen ganz besonderen Stadtteil. Umstellt von Glaspalästen großer Konzerne wie Festungsmauern, eignete sich hier die Zivilgesellschaft vor zehn Jahren den Rest eines Arbeiterviertels an. Ein buntes Völkchen rettete so ein Stück Hamburger Geschichte vor Verfall und Abriss. Gleichzeitig begann dadurch ein neues Stück dieser Geschichte. Sie wird nun aus der Perspektive des engagierten, alternativen Kreises der Hamburger Bevölkerung neu geprägt.

„Cheers to 10 Years“ – Das Festival zu einer Dekade des Hamburger Gängeviertels. (Logo: Gängeviertel)

Zum zehnjährigen Jahrestag lud der Verein Gängeviertel e.V. unter dem Motto „Cheers to 10 Years“ gleich für mehrere Tage ein, den langen Prozess der Aneignung des Gängeviertels zu erinnern und diese Dekade zugleich zu feiern. Bei diesen Feierlichkeiten bot auch ich am 24. August zwei Workshops, einen Vortrag und eine Installation an. Finanziert von der Landeszentrale für politische Bildung und mit dem Equipment unseres GameLab Geschichte an der Universität Hamburg ging es von 14 bis 23 Uhr um die Geschichte des Gängeviertels, was das mit Public History zu tun hat und welche Verbindungen zu historischen Inszenierungen digitaler Spiele bestehen. Thematisch zogen meine Beiträge einen Bogen von der Konstruktion von Geschichte, über Geschichtspraktiken im städtischen Raum bis hin zu digitalen Spielen als Möglichkeitenraum, um Kulturtechniken des Umgangs mit Geschichte zu erproben.

Das Programm begann mit einem vierstündigen offenen Workshop am Nachmittag. Dort konnten Kinder, Jugendliche und Erwachsenen mithilfe des digitalen Spieles Minecraft im Lokalen Netzwerk ihre Visionen von der zukünftigen Stadt errichten. Dafür nutzte ich eine Multiplayer-Karte, die ich 2014 bereits im Workshop Hamburg Respawn beim Play-Festival eingesetzt hatte. Mithilfe historischer Karten hatte ich die Topografie der Hamburger Altstadt etwa um 1500 nachgebaut und ein paar Landmarken wie etwa den Kran an der Börse zur Orientierung gesetzt. Schülerinnen und Schüler konstruierten damals eifrig spätmittelalterliche Stadtelemente auf der Basis von Quellen hinein (siehe DGBL: Hamburg Respawn (Play14), in: KEIMLING vom 22. 9. 2014). Grundlage dafür ist der Kreativmodus des Spieles, ein bunter Konstruktionsbaukasten. Als Ausgangsbasis passte diese digitale Umgebung daher hervorragend, damit die Gäste zwischen historischen Gebäuden ihre Vorstellungen einer baulichen Zukunft Hamburgs verwirklichen konnten. Der Netzwerkcharkter des Multiplayer-Modus rief dabei spielerisch in Erinnerung, dass wir unsere städtische Zukunft alle gemeinsam errichten.

2014 errichteten Schülerinnen und Schüler spätmittelalterliche Bauwerke auf einer Multiplayer-Karte von Minecraft, nun setzten die Besucherinnen und Besucher ihre Visionen eines zukünftigen Hamburg dazwischen. (Abb. eigener Screenshot, PC).
2014 errichteten Schülerinnen und Schüler spätmittelalterliche Bauwerke auf einer Multiplayer-Karte von Minecraft, nun setzten die Besucherinnen und Besucher ihre Visionen eines zukünftigen Hamburg dazwischen. (Abb. eigener Screenshot, PC).

Im Hintergrund lief kontinuierlich eine Projektion. Sie zeigte einen dreißig-minütigen Mitschnitt einer Stadtsimulation, die ich mithilfe des Aufbauspieles Cities Skylines realisiert habe. Der Film mit Szenen städtischen Lebens von Verkehr über Arbeit hin zu Kultur, Freizeit und Natur zeigt die enorme Komplexität gegenwärtiger Darstellungen einer Stadt im Spiel und lud durch die atmosphärischen Eindrücke zum Verweilen ein. Darüber hinaus zielte ich darauf, mit den Verweilenden ins Gespräch zu kommen, was die durchaus beeindruckende Stadtsimulation zeigt – und was sie eben nicht von einer Stadt zeigt. Insbesondere die Funktion eines Altstadtviertels wie das Gängeviertel regte zum Gespräch an: Die Simulation setzt es im Spiel zum ökonomischen und touristischen Mehrwert ein, verkennt es aber als Freiraum für Kunst, Kultur und Zivilgesellschaft. Gerade eine solche komplexe und visuell beeindruckende Simulation verleitet vorschnell zu übersehen, dass sie auch nur modellhaft eine bestimmte zeithistorische Vorstellung von Stadt realisiert.

Im atmosphärischen Mitschnitt einer selbsterstellten Stadt offenbaren sich Vorstellungen über gesellschaftliche Aneignungen städtische Räume anhand des Spieles ‚Cities Skylines‘ – und die Lücken einer solchen Simulation. („Schaffe Deine Stadt – Gesellschaftliche Aneignung städtischer Räume im digitalen Spiel“, in: Kanal TheBlitzechse via Youtube vom 26.8.2019)

Was heute ein buntes, ein wenig durchgedrehtes Künstler- und Handwerksviertel ist, begann in der Industrialisierung als Arbeiterstadtteil. Wegen seiner hygienischen Bedingungen kam es nicht erst in der Cholerawelle Ende des 19. Jahrhundert überregional ins Gerede, auch die beengte Wohnsituation empfahl ihn nicht als Traumsiedlung. Allerdings besaßen die engen Häuser einen städtebaulich einmaligen, fließenden Charakter: In den Innenhöfen gingen private, halböffentliche und geschäftlich genutzten Sphären kaum trennbar ineinander über. Nach mehreren Abrisswellen am Beginn des Jahrhunderts blieb Ende der Sechziger Jahre nur noch ein kleines Relikt übrig. Schließlich sollte auch dieses ein Entwicklungsplan beseitigen. 2009 besetzte kurzerhand ein Kollektiv von zivilgesellschaftlichen Aktivisten die verfallenden Gemäuer, legte Nutzungskonzepte vor, sanierte, förderte Kunst und Kultur und erreichte schließlich breite Sympathien in Stadt und Bürgerschaft. Seit April 2019 erreichte Gängeviertel e.V. eine wichtige Etappe mit einem dauerhaften Erbpachtvertrag und schuf über die zehn Jahre einen einmaligen Begegnungsraum für diese Stadt.

Entlang dieser zivilgesellschaftlichen Tatkraft knüpfte ich den roten Faden durch den Tag: von der gesellschaftlichen Aneignung städtischer Räume über die Methoden und Ziele der Public History, Menschen zu einem selbständigen Umgang mit Geschichte zu befähigen, bis hin zu digitalen Spielen. In letzteren erfahren Spielende Konstruktionen von Städten und erarbeiten sich selbsttätig historische Vorstellungen über städtische Räume. Diese Verbindungen betonte mein Vortrag um 19 Uhr. Knapp leitete er damit vom Nachmittagsprogramm über die Installation der Stadtansichten hin zu unserem Abendprogramm.

Mein Vortrag baute am frühen Abend eine Brücke zwischen den Themenblöcken. (Abb. eigener Screenshot)

Bis in die Nacht bot ein zweiter offener Workshop mehrere Spielstationen auf unterschiedlichen technischen Plattformen an. Assassin’s Creed Syndicate lud auf der Playstation 4 ein, in eine Vision von London im späten 19. Jahrhundert während der Industrialisierung zu reisen. In dem Action-Abenteuerspiel können Spielende Viertel mit sehr vergleichbaren Arbeiterhäusern aufsuchen, wie sie auch die Grundlage des Hamburger Gängeviertels bilden. Am PC bot das Städteaufbauspiel Sim City (2013) den Besuchern die Möglichkeit, selbst mit dem Aufbau einer Stadt zu experimentieren. Bioshock Infinite hingegen zeigte exemplarisch, dass Städte in digitalen Spielen auch als Symbole dienen – in diesem Fall für den weißen, konservativen Sehnsuchtsort „Columbia“, die utopische Vorstellung einer idealisierten USA unter religiös überhöhten Gründervätern, die an ihrem grassierenden Rassismus scheitert. Spiel und Stadt kommentieren so die Ursache für die gegenwärtige Lage der USA.

Verschiedene Spiele aus der Ludothek des Hamburger GameLab standen zum Ausprobieren bereit. (Abb. eigener Screenshot)

Mit der Aneignung städtischer Räume auf unterschiedliche Weisen durch Spielende und der Verwirklichung alternativer, utopischer Gesellschaftsvorstellungen führt meine Veranstaltung wieder direkt zum Gängeviertel und seiner Geschichte zurück. Nur weil es seit 2019 einen Erbpachtvertrag gibt, heißt es noch lange nicht, dass der Verein damit im Establishment angekommen wäre. Der Prozess der Aneignung des Städtischen Raumes und seiner historischen Deutung setzt sich kontinuierlich fort. Um zu bestehen, muss sich das Gängeviertel kontinuierlich neu erfinden. Erst jüngst öffnete das örtliche Museum „Vor-Gänge“, das Einblicke in die historische Entwicklung des Quartiers bietet. Auf geführten Rundgängen zeigen engagierte Vereinsmitglieder den eigenen Blick auf ihr Projekt. Auch das Festival etabliert letztlich eine eigene Tradition der Lesart dieses Prozesses. Zusammen mit der Hamburger Landeszentrale für Politische Bildung und der Public History Hamburg leistete ich gern einen Baustein der Reflexion dazu.

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